Denken trotz Wissen
Warum KI das Wissen übernimmt – und uns das Denken zurückgibt
In kaum einem Bereich hinkte die Digitalisierung so lange hinterher wie in der Bildung. Und doch war es ausgerechnet hier, wo Künstliche Intelligenz zum ersten Mal nicht nur Euphorie, sondern Kritik auslöste. Nicht von innen, sondern, weil viele Schülerinnen und Schüler schneller erkannten, was mit dieser Technologie möglich ist. Nicht aus Neugier. Sondern, weil sie längst verinnerlicht haben, worauf es ankommt: Effizienz. Optimierung. Ergebnis.
Ich war ein schlechter Schüler. Das System hatte klare Erwartungen, und ich entsprach nicht wirklich.
„Klug, aber faul“, hörte ich oft. Oder besser gesagt: meine Eltern, die den Satz regelmäßig von den Elternabenden mitbrachten. Das Bildungssystem drohte mit der Warnung, ich würde Potential liegen lassen, und dass das mich ein Leben lang verfolgen würde.
Ich war nicht langsam oder zu schnell, ich war selektiv.
Das, was mich interessierte, hatte meine volle Aufmerksamkeit. Der Rest lief an mir vorbei.
Ich hatte Zeit. Und es dauerte bis ins letzte Halbjahr vor dem Abitur, bis ich endlich den Schalter umlegte. Die „Zündung“ kam spät, aber sie war da.
Diese Zeit fiel in die Ära, als Deutschland als „kranker Mann Europas“1 galt. Wir hörten ständig, dass wir mehr leisten, flexibler werden müssten. In einem System, das selbst nicht flexibel war.
Erst auf unserer Abifeier brach die Elternsprecherin dieses Bild auf. Sie wies es zurück und versprach uns, wir täten gut daran, an uns selbst zu glauben.
Ich erinnere mich, dass es sich gut angefühlt hat. Und heute weiß ich, wie recht sie hatte.
Bildung als Spiegel eines Systems
Bildung war nie nur ein persönlicher Prozess. Sie spiegelt immer auch gesellschaftliche Erwartungen und wirtschaftliche Ziele wider. Ein Beispiel dafür ist das Bologna-System2, das die Hochschulbildung stärker wirtschaftlich ausgerichtet hat und die Ausbildung zunehmend als Produktivitätseinheit versteht. Der Fokus verschiebt sich: Es geht weniger um individuelle Entfaltung und mehr um Marktfähigkeit.
Doch das Bologna-System ist nur ein sichtbarer Ausdruck einer größeren Problematik. Das Bildungssystem trägt noch immer Altlasten aus dem 19. Jahrhundert3, als es darauf abzielte, Menschen für die industrielle Arbeit vorzubereiten. Diese alten Strukturen halten weiterhin an einem Leistungsdenken fest, das wenig Raum für Kreativität und individuelle Entfaltung lässt.
Das System ist ein Spiegelbild des Wirtschaftsdenkens, das Effizienz und Anpassung belohnt. Es bleiben die Fragen: Manifestieren wir mit dieser Erwartung bereits die strukturellen Probleme der Wirtschaft in den nächsten Generationen? Und: Was passiert mit der Selbstbestimmung der Schüler und Studierenden, wenn der Bildungsweg nur noch nach der Verwertbarkeit von Wissen ausgerichtet wird?
Von der Anpassung zur Mündigkeit
Bildungssysteme haben stets verlangt, dass sich die Schüler anpassen, an ein System, das durch effiziente Leistung und gesellschaftliche Erwartungen bestimmt wird. Diese Anpassung hat oft wenig Raum für die Selbstbestimmung des Lernenden, der nur noch als Produkt des Systems gilt.
Doch wahre Mündigkeit entsteht nicht durch bloße Anpassung. Sie entsteht durch Selektivität. Die Fähigkeit, selbst zu entscheiden, was wichtig ist, was Lernen wirklich bedeutet und was der eigene Weg in diesem System sein könnte. Mündigkeit bedeutet, nicht nur zu reagieren, sondern zu handeln und zu reflektieren. Die Selektivität hilft, den eigenen Lernprozess zu steuern, ohne nur durch die Anforderungen des Systems bestimmt zu werden.
Diese Selektivität könnte heute durch Technologie eine neue Bedeutung gewinnen und so Mündigkeit sowie Selbstbestimmung fördern. Doch auch hier bleibt die zentrale Frage: Wie kann man der Technologie vertrauen, wenn das eigentliche Ziel der Bildung doch die Befähigung zur selbstbestimmten Reflexion bleibt?
Zwischen Hilfe und Hoheit
Diese Frage berührt den Kern einer aktuellen Auseinandersetzung: Welche Rolle darf eine Technologie im Bildungsprozess überhaupt einnehmen – und wo beginnt der Verlust pädagogischer Verantwortung?
Einerseits eröffnet Künstliche Intelligenz neue Möglichkeiten: Unterrichtsinhalte können individueller zugeschnitten, Lernstände feiner erfasst, Wiederholungen gezielter angeboten werden. Lehrkräfte könnten durch digitale Assistenten entlastet werden. Nicht ersetzt, sondern unterstützt. Und für Schüler, die bislang durchs Raster gefallen sind, könnten sich neue Wege des Zugangs und der Beteiligung ergeben. In dieser Perspektive wäre KI kein Widerspruch zur Mündigkeit, sondern ein Werkzeug, das sie stärken hilft.
Doch andererseits verschiebt sich mit jeder neuen Schnittstelle auch die Hoheit über den Bildungsprozess. Wenn digitale Systeme zunehmend mitentscheiden, was, wie und in welcher Tiefe gelernt wird, steht nicht nur die pädagogische Freiheit zur Debatte, sondern auch der demokratische Auftrag der Schule selbst. Wer kontrolliert die Algorithmen? Wer kuratiert die Inhalte? Wer garantiert, dass Förderung nicht zur Profilbildung wird – oder zur stillen Disziplinierung?
Was als technische Hilfe beginnt, kann schnell zum strukturellen Einfluss werden. Bildung wird nicht mehr in Lehrplänen definiert und im Klassenraum ausgehandelt, sondern in Rechenzentren, Richtlinien, Geschäftsmodellen.
In Deutschland ist Bildung zwar Ländersache, doch die Infrastruktur, die sie zunehmend prägt, kommt längst aus dem Silicon Valley. Was einmal ein demokratisch ausgehandelter Raum war, droht sich zu verschieben. Und das in einem System, das sich mit der Digitalisierung lange schwergetan hat – strukturell, technisch, aber auch kulturell.
Vielerorts fehlt nicht nur die Ausstattung, sondern auch das Verständnis dafür, wie digitale Prozesse gestaltet, statt nur geduldet, werden können. In diesem Vakuum entsteht ein gefährlicher Raum: Während Schulen noch über WLAN diskutieren, entwickeln Plattformen längst die Tools, Inhalte und Standards von morgen. Nicht als pädagogische Konzepte, sondern als Produkte.
Weltfähigkeit – Bildung im Zeitalter nach dem Wissen
Während KI zur Infrastruktur wird, stellt sich eine grundlegendere Frage: Wozu bildet sie uns aus – und worauf bereiten wir uns eigentlich vor? Die KI kann Inhalte wiedergeben. Zusammenhänge ordnen. Muster erkennen. Sie kann prüfen, simulieren, formulieren. Aber was sie nicht kann: Fragen, die noch keiner gestellt hat.
Die Fähigkeit, sich zu orientieren, obwohl nichts feststeht. Die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, obwohl das Wissen lückenhaft ist. Die Lust, zu denken. Auch ohne Ergebnis.
Vielleicht ist das, was heute gebraucht wird, kein neues Tool. Sondern ein neuer Begriff.
Weltfähigkeit.
Der Begriff ist bislang eher randständig verwendet worden. Mal als systemkritischer Maßstab für die Zukunftsfähigkeit unserer Lebensweise, mal als philosophischer Impuls für ein verantwortliches In-der-Welt-Sein.4 Doch meist bleibt er abstrakt, als programmatisches Schlagwort. Vielleicht ist es an der Zeit, ihn konkret werden zu lassen: Nicht Staaten. Nicht „die Menschheit“. Sondern jeder Einzelne. Menschen müssen weltfähig sein.
Menschen, die navigieren können – ohne Landkarte. Menschen, die mit Widerspruch umgehen, ohne sich zu verlieren. Menschen, die denken, bevor sie handeln – aber auch dann, wenn niemand sie fragt.
Bildung wäre dann nicht mehr das Training für Prüfungen, sondern der Trainingsraum für Weltfähigkeit.
Kein neuer Stoff. Sondern eine neue Haltung. Keine neue Disziplin. Sondern ein neuer Fokus. Nicht: Was weißt du? Sondern: Was machst du mit dem, was du (nicht) weißt?
Und vielleicht ist das der Moment, in dem Bildung aufhört, sich zu rechtfertigen und anfängt, sich selbst zu definieren.
Nicht für das, was gestern geprüft wurde. Sondern für das, was morgen zählt.
Bildung neu denken
Vielleicht könnte Künstliche Intelligenz die Schule nicht einfach unterstützen, sondern infrage stellen und gerade dadurch retten. Nicht als weiteres Werkzeug zur Effizienzsteigerung, sondern als Störung. Als Impuls, neu zu fragen: Worum geht es eigentlich?
Wenn das, was lange als Kern der Bildung galt – Wiederholen, Anwenden, Reproduzieren – plötzlich mühelos von Maschinen erledigt wird, bleibt nicht weniger, sondern mehr übrig: Die Frage nach Sinn. Nach Haltung. Nach Urteil.
Vielleicht beginnt echte Bildung dort, wo die KI an ihre Grenze kommt: Wenn es nicht mehr darum geht, was man weiß, sondern was man daraus macht. Wenn nicht mehr zählt, wie gut man wiedergibt, sondern wie klar man fragt. Wenn Lernen nicht mehr heißt, ein Ergebnis zu erreichen, sondern einen Gedanken zu entwickeln.
Dann wäre Schule nicht mehr das Vorzimmer der Arbeitswelt, sondern ein Raum für Mündigkeit. Nicht Sortierung – sondern Befähigung. Nicht Kontrolle – sondern Verantwortung.
Und vielleicht endet diese Vision nicht an der Schultür. Denn dieselbe Technologie, die heute im Klassenzimmer diskutiert wird, kann morgen schon ganz woanders wirken – im Wohnzimmer, in der Bibliothek, im Ruhestand. Ein und dasselbe Sprachmodell – mit anderem Rahmen, anderer Sprache, anderer Aufgabe. Nicht mehr als Werkzeug der Institution, sondern als Partner des Lernens. Jederzeit. Für alle.
Vielleicht wäre das der größte Fortschritt: Dass Bildung nicht mehr endet, weil der Zugang nicht mehr begrenzt ist.
Die Frage, wer das bezahlt, bleibt wichtig. Aber vielleicht müssen wir sie anders stellen: Nicht als Kostenpunkt im Bildungsetat, sondern als strategische Investition. Denn die Menschen, die lernen, mit einer Technologie wie KI umzugehen – kritisch, kreativ, eigenständig – sind nicht nur besser vorbereitet auf ihre eigene Zukunft. Sie sind auch das, was eine Wirtschaft braucht, die selbst nicht mehr weiß, was übermorgen zählt.
Was in der Schule beginnt, betrifft auch die Wirtschaft. Und was dort gelingt, könnte zum europäischen Modell werden: Eine KI, die nicht dominiert, sondern dient. Eine Technologie, die nicht den Takt vorgibt – sondern Menschen dabei unterstützt, ihren eigenen zu finden.
Dann wäre Bildung nicht mehr nur Ländersache, sondern europäische Zukunftspolitik.
Wir müssen nicht bei null anfangen
Wenn wir heute darüber nachdenken, wie Bildung auf eine Welt mit KI reagieren kann, tun wir oft so, als gäbe es noch keinen Kompass. Doch das stimmt nicht ganz. Es gibt Disziplinen, die seit Jahrzehnten lehren, was jetzt gebraucht wird: Denken in Ungewissheit. Arbeiten mit offenen Fragen. Strukturierung ohne fertige Lösung.
Design ist nur eine davon. Ich habe es studiert und unterrichtet und gemerkt, wie sehr seine Methoden ins Zentrum rücken könnten, wenn Bildung auf eine Welt mit KI reagieren will.
Was in Designprozessen selbstverständlich ist – etwa die Trennung von Problem- und Lösungsraum, iteratives Denken, das Zulassen von Umwegen – fehlt im Bildungssystem oft völlig. Design Thinking wurde dafür einmal als Methode entworfen. Heute wird es zu oft als Format konsumiert. Dabei liegt sein Wert nicht in Post-its und Denkerposen im Intranet, sondern in der Haltung: zu erkunden, statt zu behaupten.
In meiner Arbeit erlebe ich immer wieder, wie anschlussfähig diese Denkweise ist und wie sehr sie oft erst im Laufe der Zusammenarbeit verstanden wird. Kunden merken, dass ich anders denke und dass dieses Denken eine andere Art von Ergebnis produziert: nicht schneller, aber tragfähiger. Nicht glatter, aber wirklicher.
Daraus entstehen Synergien, die meine Arbeit erst ermöglichen und ihre verändern können. Weil voneinander Lernen neue Perspektiven öffnet. Und Raum schafft für das, was vorher keinen Platz hatte.
Vielleicht ist genau das der Punkt, an dem Bildung ansetzen kann: Nicht durch mehr Inhalte. Sondern durch neue Haltungen. Nicht durch Kontrolle. Sondern durch das Vertrauen, dass Urteilsfähigkeit sich nicht messen lässt – aber dennoch wirkt.
Im Design lehrt man nicht im Sinne von „schöner machen“, sondern im Sinne von: etwas gestalten, das noch nicht da ist. Herauszufinden was Symptom und was Ursache ist, bevor man sich auf die Suche nach Lösungen macht.
Die Designlehre – in Deutschland tief verwurzelt, von Bauhaus bis Hochschule für Gestaltung Ulm5 – hat Methoden entwickelt, mit denen man sich Problemen annähert, statt sie vorschnell zu beantworten. Sie trainiert Urteilskraft, Kontextverständnis und das Aushalten von Ambiguität. Alles Fähigkeiten, die heute in Bildungsdebatten schmerzlich fehlen, und in der KI-gestützten Welt dringend gebraucht werden.
Von der Schwäche zur Struktur
Das Bildungssystem wird schon lange und oft kritisiert – zu starr, zu alt, zu eng. Viele haben sich daran abgearbeitet, viele sind daran gescheitert. Doch vielleicht beginnt jetzt ein Moment, in dem sich zeigen kann, wie es auch anders geht.
Wenn wir Bildung neu denken, ermöglichen wir nicht nur anderen Wege, wir korrigieren auch ein Bild, das zu lange als wahr galt.
Ich galt als klug und faul. Lange war das ein Makel. In einem System, das nur sah, was messbar war.
Jahre nach der Schulzeit, ich hatte eine Ausbildung absolviert, studiert und stand mit beiden Beinen im Berufsleben, las ich einen Satz, der Erinnerungen auslöste und mich lächeln ließ: „Wer klug ist und gleichzeitig faul, qualifiziert sich für die höchsten Führungsaufgaben, denn er bringt die geistige Klarheit und die Nervenstärke für schwere Entscheidungen mit.“
Gesagt hat ihn Kurt von Hammerstein-Equord6, jemand, der aus einer Welt der Norm kam, der wusste, was Anpassung bedeutet und was sie leisten kann. Und der selbst dort eine Aufgabe für die sah, die klug und faul zugleich sind.
Die „Führungsaufgabe“ schmeichelte – aber berührt hat mich etwas anderes: Dass Faulheit nicht Untätigkeit sein muss, sondern ein Antrieb: Prozesse zu hinterfragen, Umwege zu vermeiden, Energie dorthin zu lenken, wo sie wirklich wirkt.
Vielleicht war ich nie faul. Vielleicht war ich nur früh auf der Suche nach Sinn. Und vielleicht hatte ich einfach das Glück, irgendwann auf Wege und Menschen zu treffen, die mir gezeigt haben, wie daraus etwas werden kann. Heute versuche ich, Strukturen zu verstehen und sie so zu gestalten, dass andere in ihnen besser arbeiten können, und dass ihr Fleiß nicht in Widersprüchen verpufft.
Als ‚kranker Mann Europas‘ wurde Deutschland in den frühen 2000er Jahren wirtschaftlich und politisch beschrieben, im Kontext hoher Arbeitslosigkeit und Reformdruck. ↵
Das Bologna-System wurde ab 1999 eingeführt, um europaweite Vergleichbarkeit zu schaffen – mit Fokus auf Modularisierung, Output-Orientierung und arbeitsmarktnaher Qualifizierung. ↵
Die Idee der industriellen Standardisierung von Bildung prägte viele Schulsysteme seit der preußischen Reformzeit – mit Fokus auf Disziplin, Funktionalität und Reproduzierbarkeit. ↵
Der Begriff „Weltfähigkeit“ wurde u. a. von Bildungsforscherinnen wie Annedore Prengel und Philosophen wie Peter Sloterdijk diskutiert. Der zugrunde liegende Gedanke des In-der-Welt-Seins geht auf Hannah Arendt zurück, die Bildung als Voraussetzung für verantwortliches Handeln in einer gemeinsamen Welt verstand. ↵
Das Bauhaus (1919–1933) und die HfG Ulm (1953–1968) prägten das Verhältnis von Gestaltung, Gesellschaft und Lernprozess maßgeblich. ↵
Kurt von Hammerstein-Equord, preußischer General (1878–1943), der dem militärischen Widerstand gegen Hitler nahestand. ↵