Fortschritt ohne Richtung
Warum KI nichts verspricht – und wir trotzdem hoffen
Viele sprechen derzeit über Künstliche Intelligenz, als würde mit ihr der große Sprung gelingen. Die Erwartung: Sie werde lösen, was wir uns selbst nicht mehr zutrauen – weil es zu komplex, zu teuer oder zu langsam ist. Doch echte Innovation beginnt nicht mit Technologie. Sondern mit dem, was fehlt.
Max Reisböck war gelernter Karosseriebauer bei BMW. Was er brauchte, war nichts Großes. Nur ein Auto mit mehr Platz für seine Familie.
Aber es gab keines.
Nicht im Katalog. Nicht auf der Roadmap. Nicht im System.
Also nahm er eine Limousine, schnitt das Dach auf, verlängerte die Karosserie und baute eine Heckklappe ein. In seiner Freizeit. In einer Garage.
So entstand der erste 3er Touring. Kein Auftrag. Kein Team. Keine Abteilung. Nur ein Mensch mit einem Bedürfnis und der Bereitschaft, etwas zu tun, das offiziell nicht vorgesehen war.1
Das Unternehmen war erst skeptisch. Dann überzeugt. Heute ist der Touring selbstverständlich.
Vielleicht beginnt echter Fortschritt genau so: Nicht mit Strategien, sondern mit einem Problem. Nicht mit Zielmärkten, sondern mit Wirklichkeit. Und nicht mit großen Versprechen, sondern mit dem Mut, das Falsche einfach nicht so zu lassen, wie es ist.
Fortschritt oder nur Effizienz?
Max Reisböck war ein leiser Systemsprenger. Nicht, weil er das System kritisieren wollte, sondern weil es für sein Problem keinen vorgesehenen Ort gab. Er handelte nicht gegen Regeln, aber außerhalb ihrer Logik. Er tat etwas, das gebraucht wurde, ohne gefragt zu haben, ob es erlaubt war.
Und genau das ist heute selten. Fortschritt beginnt kaum noch mit einem echten Mangel, sondern mit Zahlen, mit Skalierbarkeit, mit Prozessen. Nicht aus einem Bedürfnis heraus, sondern aus der Logik eines Systems, das sich selbst verwaltet. Was zählt, ist nicht: Was fehlt? Sondern: Was lässt sich anschlussfähig planen, messen, vermarkten.
In diesem Denken wird Innovation oft zur Effizienzmaßnahme mit neuem Namen. Was als „Zukunft“ verkauft wird, ist meist nur die beschleunigte Wiederholung des Bekannten. Und je stärker diese Logik wird, desto passender erscheint eine Technologie wie KI.
Wer diese Logik in Aktion sehen will, muss nur auf das schauen, was ich den Touchscreen-Fetisch nenne. Eine Technologie, die zur vermeintlichen Formel wurde – nicht wegen ihrer Funktion, sondern wegen ihrer Symbolkraft. Als das Smartphone seinen Siegeszug antrat, hielten viele Unternehmen den Touchscreen für den digitalen Hammer – und jedes Problem wurde zum Nagel.
Touchscreens wurden verbaut, wo immer es möglich war. Und oft genau dort, wo es nicht nur sinnlos, sondern schlicht Unsinn war.
In Fast-Food-Ketten gelten sie als Symbol für Effizienz und helfen tatsächlich, Prozesse zu verschlanken: weniger Personal, weniger Fehlbestellungen, weniger unverkaufte Ware. Der Touchscreen wird zum Hebel, das gesamte System auf „on demand“ umzustellen. Was als Beschleunigung verkauft wird, entschleunigt vor allem eines: unsere Erfahrung. Erst stehen wir vor dem Terminal, dann warten wir auf die Ausgabe. Ausgerechnet dort, wo es einmal schnell gehen sollte, wird der Ablauf zur Geduldsprobe. Und dabei haben wir das Thema Hygiene noch nicht mal angerührt.2
In Fahrzeugen ersetzten Touchscreens Knöpfe, die man blind bedienen konnte, durch flache Flächen, die volle Aufmerksamkeit fordern. Lange war das eine Prüfungsfrage im Führerscheinunterricht: Wie weit fährt ein Auto bei 130 km/h in einer Sekunde, wenn man aufs Radio schaut? Aus der Ausnahme wurde der Standard. Verpackt in Glas, Design, Animation. Sie heißt: Touchscreen.3
Und ausgerechnet dort, wo Unternehmen einst führend waren, sei es bei Sprachinterfaces im Auto oder bei schnellen Bestellprozessen, gaben sie die Optimierung kampflos auf, um dem Bildschirm zu huldigen.
Fortschritt wurde nicht gestaltet, sondern imitiert. In Pixeln – nicht in Prinzipien. In Oberfläche – nicht in Orientierung.
Vielleicht passt die KI so gut, weil sie etwas kann, was das System gelernt hat zu bevorzugen: Sie erkennt, was da ist. Sie sortiert, verdichtet, optimiert. Sie fragt nicht nach dem Warum und wird dafür umso bereitwilliger eingesetzt.
Aber was heißt das eigentlich? Was ist das Wesen dieser Technologie, die so mühelos in die Logik unserer heutigen Wirtschaft passt? Vielleicht beginnt das Verständnis dort, wo die Daten aufhören und die Muster beginnen.
Denkgrenzen der Maschine
Künstliche Intelligenz kann heute Dinge erkennen, die dem menschlichen Blick lange verborgen geblieben sind. Sie entdeckt Muster, die zu komplex, zu fein oder zu tief vergraben waren, um sie manuell zu finden. Das ist beeindruckend und oft nützlich. Manche nennen es sogar „intelligent“.
Aber es bleibt: Mustererkennung. Immer auf Basis des Bestehenden. Immer rückgebunden an das, was schon einmal vorgekommen ist.
Was sie erkennt, war da. Was sie nicht kennt, bleibt unsichtbar.
KI generiert keine neuen Fragen. Sie formuliert keine Hypothesen, die außerhalb des Datensatzes liegen. Sie schlägt keine Probleme vor, für die es noch keine Antwort gibt.
Und vielleicht liegt hier eine Grenze, die schwer greifbar ist. Weil sie nicht mit Tempo kollidiert, sondern es still begleitet. Schleichend, über Jahre, Jahrzehnte, vielleicht noch mehr. Eine Bewegung, die aussieht wie Fortschritt. Aber endet in einer sehr langen Sackgasse.
Denn solange der Mensch noch träumt, speist er das System mit dem, was es nicht kennt. Aber wenn wir aufhören, neue Fragen zu stellen – weil die Maschine uns so viele Antworten gibt – dann endet irgendwann auch der Fortschritt.
Nicht plötzlich. Nicht sichtbar. Sondern leise. Als allmähliches Verschwinden des Neuen.
Und genau deshalb ist ihr Fortschritt, ohne den Menschen, endlich. Nicht, weil sie versagt. Sondern weil wir vergessen könnten, was jenseits des Bestehenden liegt.
Das ist keine Schwäche.
Es ist ihre Natur.
Die menschliche Lücke
Die KI erkennt, was war. Sie findet Muster, ordnet sie, optimiert. Doch sie weiß nicht, wozu.
Sie kann keine Unterscheidung treffen zwischen dem, was nur effizient ist,
und dem, was tatsächlich verändert werden muss.
Sie fragt nicht, ob sie ein Symptom mildert – oder eine Ursache löst.
Weil sie nichts will.
Der Mensch kann das. Zumindest: Er könnte. Nicht, weil er mehr Daten hat, sondern weil er ein Gefühl für Lücke kennt. Für das, was fehlt, obwohl es nicht messbar ist. Für das, was stört, obwohl es nicht erklärbar ist. Für das, was gebraucht wird, obwohl es noch keinen Namen hat.
Der Mensch kennt Mangel.4 Nicht nur als Defizit, sondern als Impuls. Er leidet, er sehnt sich, er stellt sich vor, wie etwas anders sein könnte.
Und manchmal reicht genau das: Nicht mehr weiterwissen, aber etwas wollen, das es noch nicht gibt.
Was wir als Fehler erleben – Widerspruch, Irritation, Bruch – ist für die Maschine ein Störsignal. Für den Menschen kann es der Anfang sein. Nicht jeder Zweifel führt zur Erkenntnis. Aber ohne Zweifel gibt es keine.
Vielleicht ist genau das die Lücke: Die Maschine rechnet, der Mensch träumt. Aber wenn wir vergessen, dass Träumen eine Fähigkeit ist, dann wird auch sie irgendwann nur noch wie ein Fehler wirken.
Was wir Fortschritt nennen, war selten nur ein einzelner Gedanke. Es war das, was entsteht, wenn viele ihre eigenen Lücken ernst nehmen und daraus gemeinsam eine neue Wirklichkeit bauen.
Nicht berechnet.
Nicht wahrscheinlich.
Sondern gewollt.
Der Ursprung des Neuen
Benjamin Franklin baute keinen Blitzableiter5, weil er ein Start-up gründen wollte. Sondern weil Menschen starben und keiner verstand, warum.
Was er schuf, war mehr als ein Werkzeug. Es war ein Eingriff in das Weltbild: Der Blitz war nicht länger göttlicher Zorn, sondern ein Phänomen, das sich verstehen und umlenken ließ.
So beginnt echter Fortschritt: Nicht in der Arbeit an einer Lösung, sondern beim verstehen des Problems.
Doch genau dort hält sich wirtschaftliches Denken heute kaum auf, und mit ihm eine Logik, die längst über große Unternehmen hinauswirkt. Es will Wirkung – ohne Irritation. Antworten – ohne Unklarheit. Und so wird auch das Neue oft behandelt wie das Alte: planbar, effizient, anschlussfähig.
Design Thinking sollte einmal lehren, anders zu denken. Eine Methode, die versprach, neue Perspektiven zu öffnen. Aber was bleibt von ihr, wenn sie auf ein System trifft, das schon vor dem Denken weiß6, was rauskommen soll? Ein Hype mit leerem Versprechen.
Heute ist es ein Format – effizient, anschlussfähig, ohne Tiefgang. Man lädt Coaches ein, inklusive Post-its, Sharpies – manchmal auch Lego-Steine.7 Zwei Tage lang denkt man „ganz anders“. Mit Kollegen, die man sonst nur aus der Kantine kennt.
Es fühlt sich gut an. Als würde man gerade das Unternehmen neu erfinden. Ein schöner Wochenausklang und am Montag darauf sitzt man wieder in denselben Meetings mit denselben PowerPoint-Folien und denselben Erwartungen.
Design Thinking war ein Angebot, den Problemraum zu betreten. In vielen Unternehmen wird es eingekauft ohne den Sinn zu verstehen.
Denn das Corporate Mindset will nicht denken. Es will rechnen. Es versteht Ideen nur, wenn sie anschlussfähig sind. Es versteht Veränderung nur, wenn sie vorher schon geklärt ist.
Verantwortung in unserer Zeit
Ideen gibt es viele. Auch der Wille, etwas zu verändern, ist nicht selten. Aber wer entscheidet eigentlich noch?
In vielen Unternehmen wollen alle mitreden, aber kaum jemand will verantwortlich zeichnen. Entscheidungen werden vorbereitet, verwaltet, vorsortiert – und am Ende bleibt ein Feld aus Ja-oder-Nein-Fragen.8 Keine offenen Optionen. Kaum echte Alternativen.
Verantwortung klingt gut. Solange sie niemand tragen muss. Vor allem nicht dort, wo sie unbequem wird: bei Entscheidungen ohne Gewissheit, mit langfristiger Wirkung, aber kurzfristigem Risiko.
Wer heute Unternehmen führt, entscheidet meist nicht über Richtung. Sondern über Tempo. Über Formulierungen. Über Takt. In KPIs, Reports und Märkten, die sofort reagieren, aber selten zuhören.
CEOs sind in der Regel keine Eigentümer. Sie sind angestellt. Bewertet. Austauschbar. Ihre Aufgabe: oft nicht aufzubrechen, sondern anschlussfähig zu bleiben. Und dabei Ausgleich zu schaffen – zwischen Investoren und Belegschaft, zwischen Innovation und Risiko, zwischen Geschwindigkeit und Substanz.
Vor dem Siegeszug des Neoliberalismus war der Finanzmarkt ein dienender Sektor. Heute bewegt er ein Vielfaches der realen Wirtschaft. Kapital war einmal Treibstoff. Heute gibt es den Takt vor und misst Erfolg oft im Quartal, nicht im Jahrzehnt.
Und dieser Takt reicht weiter, als wir denken. Er formt Entscheidungen, noch bevor sie getroffen werden.
Verantwortung wird nicht mehr verweigert, sie wird strukturell vermieden.
Und genau hier liegt die Gefahr auch im Umgang mit KI. Wer Entscheidungen nur im Takt der Quartale trifft, wird versucht sein, KI nicht als langfristige Infrastruktur zu begreifen. Sondern als kurzfristigen Hebel. Ein Tool zur Effizienzsteigerung. Ein Sparprogramm in schicker Verpackung.9
Doch Künstliche Intelligenz ist kein Add-on. Sie ist eine Grundsatzentscheidung. Ein System, das tief in Prozesse eingreift. Wer hier nur operativ denkt, riskiert strukturelle Abhängigkeit: von Anbietern, deren Interessen nicht immer offenliegen. Von Modellen , deren Logik nicht nur intransparent ist, sondern potenziell von außen beeinflusst.10 Von Plattformen, die sich als Helfer präsentieren, aber Infrastruktur ersetzen.
Was wir brauchen, ist nicht nur Technologieeinsatz, sondern Technologiepolitik. Einen Plan, der über das nächste Release hinausgeht. Eine Idee davon, was KI in fünf oder zehn Jahren für unsere Wirtschaft bedeuten soll. Nicht als Showroom-Projekt. Sondern als strategische Architektur.
KI als Wandel
KI muss uns nicht ersetzen. Sie kann uns stärken. Nicht im Sinne von: effizienter mit KI arbeiten. Sondern: gemeinsam denken, gestalten, erweitern. Ko-Kreativität: nicht als Methode, sondern als Haltung.
Denn Sinn entsteht nicht aus Berechnung. Er entsteht dort, wo Menschen Fragen stellen, Zweifel zulassen, neu anfangen. Wenn das aufhört, bleibt nur Wiederholung.
Gleichzeitig kann KI entlasten. Nicht durch Convenience, sondern durch Vereinfachung. Sie kann helfen, das abzutragen, was Arbeit lähmt: Dokumentation, Berichtspflicht, Systempflege – all das, was Pflicht ist, aber nie Kür. Nicht das, wofür Menschen angestellt wurden, aber das, was ihre Zeit frisst.
Wenn diese Schichten dünner werden, entsteht Raum. Für Sinn. Für Orientierung. Für eine Wirtschaft, die nicht nur skaliert, sondern fragt: Wofür?
Unsere Hoffnung, unser Versprechen
Max Reisböck wollte kein Innovationsprojekt starten. Er wollte nur ein Auto, das es noch nicht gab. Er baute es. in seiner Freizeit, in einer Garage. Und dann brachte er es zu BMW. Sein direkter Vorgesetzter erkannte sofort, was da entstanden war und setzte alle Hebel in Bewegung. Am zweiten Tag kam der Vorstandsvorsitzende persönlich in die Werkstatt. Er sah das Auto. Reagierte emotional. Reichte Reisböck die Hand.
Was aus dieser Geste sprach, war mehr als Zustimmung. Es war Resonanz. Ein Moment, in dem das System, für einen kurzen Augenblick, offen war für etwas, das es nicht vorhergesehen hatte.
Heute hätte Reisböck vielleicht einen digitalen Assistenten. Er könnte Skizzen generieren, Material berechnen, Simulationen erstellen. Sein Möglichkeitsraum wäre größer denn je.
Aber vielleicht hätte er heute auch keinen Ansprechpartner mehr. Keine Abteilung, die zuständig ist für das, was noch keinen Namen hat. Vielleicht wäre sein Job längst wegrationalisiert worden. Und vielleicht gäbe es niemanden mehr, der sagt: „Gut gemacht.“
KI wird Wandel bringen. Das ist keine Frage. Aber ob sie uns weiterbringt, hängt nicht davon ab, wie leistungsfähig sie ist. Sondern davon, wie wir sie einsetzen. Nicht nur zum Optimieren. Sondern zum Entdecken. Nicht nur für Effizienz. Sondern für Möglichkeiten.
Wenn wir ernst meinen, was in Leitbildern steht – Verantwortung, Kreativität, mündige Mitarbeitende – dann sollte KI nicht weniger davon verlangen. Sondern mehr davon ermöglichen.
Vielleicht beginnt echter Fortschritt auch morgen nicht mit einem Datensatz. Sondern mit einem Menschen, der etwas sieht, das noch fehlt. Und einem System, das neugierig genug ist, zuzuhören.
Nicht Systeme, die alles wissen. Sondern Systeme, die bereit sind, Neues zu lernen.
„Manchmal muss man Dinge einfach mal tun: Die Geschichte des ersten BMW 3er Touring“, slideslive.com, Vortrag von Max Reisböck, November 2016 ↵
„Poo found on every McDonald’s touchscreen tested“, metro.co.uk, November 2018 ↵
„Ablenkung durch moderne Technik“ – Allianz Zentrum für Technik, Studie 2023, azt-automotive.com ↵
Mangel als Motor: Nicht die Verfügbarkeit von Ressourcen, sondern die Lücke im Bestehenden erzeugt Innovation – vgl. Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. ↵
Franklin veröffentlichte seine Theorie zum Blitz 1750. Die erste öffentliche Ableitung mit Blitzableiter gelang 1752. Seine Experimente verbanden Wissenschaft, Schutz und Politik. ↵
Design Thinking als Methode lebt vom offenen Problemraum, wird aber oft als Mittel zur Absicherung von Entscheidungen missverstanden. ↵
‚Serious Play‘: ursprünglich als Kreativtechnik gedacht, heute oft Symbol für simulierte Innovationsbereitschaft. ↵
In komplexen Systemen tendieren Entscheidungsprozesse zur Binarisierung – aus Steuerbarkeit, nicht aus Klarheit. ↵
Künstliche Intelligenz wird oft als Innovation verkauft – aber als Kostensenkung implementiert. ↵
Als „Data Poisoning“ bezeichnet man gezielte Versuche, die Trainings- oder Nutzungsdaten von KI-Modellen zu manipulieren, um ihr Verhalten zu beeinflussen. Bei Sprachmodellen kann dies durch massenhaft veröffentlichte, strategisch formulierte Texte geschehen, mit dem Ziel, sie in das System einzuschleusen und spätere Antworten zu prägen. ↵